"Riskante Wette": EU-Einheitspatent startet mit eigener Gerichtsbarkeit

Politiker und Vertreter des Patentwesens sprechen von einem historischen Tag, Kritiker sehen die Rechtsstaatlichkeit in Gefahr und Softwarepatente bestätigt.​

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(Bild: TierneyMJ/Shutterstock.com)

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Seit Jahrzehnten arbeiten Vertreter aus der Politik und dem Patentsystem an einem EU-Gemeinschaftspatent. Am Donnerstag geht es nun zumindest mit einer abgespeckten Variante los: Das neue EU-Einheitspatent ist nach einer schwierigen Geburt vom 1. Juni an verfügbar. Zugleich wird das Einheitliche Patentgericht (EPG) seine Arbeit aufnehmen und künftig mit unmittelbarer Wirkung für alle beteiligten EU-Mitgliedstaaten über die Verletzung und Gültigkeit von Patenten nach dem Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ) sowie dem neuen Einheitspatent entscheiden.

Anfang 2022 war das Protokoll über die vorläufige Anwendung des Übereinkommens zum EPG in Kraft getreten. Dieser internationale Vertrag bildete den Schlussstein der Reform des europäischen Patentsystems, mit dem das Einheitspatent eingeführt werden soll. Beim Europäischen Patentamt (EPA), das die neuen gewerblichen Schutzrechte vergibt, gingen zwischen 1. Januar und Anfang März 2023 schon über 3000 vorzeitige Anträge auf einheitliche Wirkung beziehungsweise auf Aufschub der Erteilung bis zum Stichtag 1. Juni ein.

An dem neuen System beteiligen sich 17 von 27 EU-Ländern. Deutschland, Frankreich, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden und Slowenien unterwerfen sich damit auch der EPG-Rechtsprechung. Weitere EU-Staaten können sich prinzipiell zwar noch anschließen. Länder wie Polen und Spanien brachten während des Gesetzgebungserfahrens aber immer wieder grundlegende Bedenken vor.

Das EPG wird dem Plan nach ein internationaler Gerichtshof mit Hauptsitz in Luxemburg, der für Verletzungs- und Nichtigkeitsklagen in Bezug auf vom EPA erteilte Patente zuständig ist. Es soll die europaweite Durchsetzung von Patenten erleichtern. Gegner warnen aber seit Langem, dass dadurch auch mehr Softwarepatente in den beteiligten Ländern schlagartig bestätigt werden könnten, obwohl deren Vergabe heftig umstritten ist.

Zweigstellen der Zentralabteilung des Patentgerichts werden in Paris, Mailand und München eingerichtet. Ursprünglich war London statt Mailand vorgesehen, aber Großbritannien verabschiedete sich mit dem Brexit als führender Vertragspartner von dem Vorhaben. In den beteiligten Ländern werden zudem erstinstanzliche Kammern eingerichtet. In Deutschland soll dies an den Standorten Düsseldorf, Hamburg, Mannheim und München der Fall erfolgen. Vorsitzender des EPG-Präsidiums und Präsident des Berufungsgerichts in Luxemburg ist mit Klaus Grabinski ein Richter am Bundesgerichtshof, der laut FFII als Verfechter von Softwarepatenten gilt. Ein Großteil der technisch versierten Richter sind Patentanwälte aus großen Kanzleien und Konzernen. Einige davon kommen etwa von 3M, Airbus, Bose, Nokia und Orange, die sich voraussichtlich teils in Verfahren für befangen erklären müssen.

Das Einheitspatent "bietet Schutz in allen teilnehmenden Staaten für weniger als 5000 Euro für die ersten 10 Jahre Laufzeit", hebt das Bundesjustizministerium hervor. Auch die Rechtsdurchsetzung werde "einfacher und kostengünstiger", denn künftig könne "in einem einheitlichen Verfahren die Verletzung eines Patents in allen teilnehmenden Mitgliedstaaten unterbunden werden". Gleiches gelte für die Überprüfung der Wirksamkeit eines Schutzrechts "mit Wirkung für alle Mitgliedstaaten".

Das ist aber teils eine verkürzte Darstellung. Die Verlängerungsgebühren für den neuen gewerblichen Rechtsschutz sollten sich Entwürfen zufolge insgesamt auf 35.555 Euro über 20 Jahre hinweg belaufen. Viele Firmen dürften so mit den bisherigen europäischen Bündelpatenten für eine Handvoll Länder besser fahren. Die EU-Kommission räumte ferner in einem Arbeitsdokument 2015 ein, dass das Kostenrisiko für Immaterialgüterrechte sowie insbesondere Patentstreitigkeiten beträchtlich sei und gerade den Mittelstand "unverhältnismäßig hart" treffe. So müssten Firmen, die einen Rechtsstreit beim EPG verlieren, die Gebühren des Gewinners zahlen. Diese beliefen sich nach vorläufigen Schätzungen auf 11.000 Euro fix plus einen vom Streitwert abhängigen Beitrag von bis zu 220.000 Euro.

Der neue Ansatz stärke "die Zukunftsfähigkeit und Innovationskraft in Deutschland und Europa", lobt Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) trotzdem. Von dem Instrumentarium profitieren "die innovative Industrie und gerade kleine und mittlere Unternehmen in Europa". EPA-Präsident António Campinos spricht sogar von einem "neuen Aufbruch für Patente und Innovationen in Europa".

Die Herausgeber eines Forschungsbands der belgischen Universität Löwen, der auch die Schattenseiten des Einheitspatents beleuchtet, kritisieren das Konstrukt gegenüber dem Kluwer-Patenblog grundsätzlich: Eine begrenzte Anzahl von Mitgliedstaaten ersetze das eigentlich geplante Gemeinschaftsschutzrecht durch eine Variante, "dessen wesentliche materielle Bestandteile in erster Linie durch internationale Verträge und nicht durch EU-Recht geregelt sind".

Die Bedingungen und das Verfahren für die Erteilung von Einheitspatenten würden durch einen internationalen Vertrag festgelegt und lägen in den Händen des EPA, das jenseits der EU stehe, monieren die Wissenschaftler. Dies führe "zu einem sehr komplexen und fragmentierten System", mit dem Ziel, den Einfluss des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu verringern. Dies sei eine "riskante Wette", da dieser das Vertragswerk doch noch für unvereinbar mit den EU-Verträgen erklären könnte. Auch Patent-Trollen rechnen sie vor Gericht weiter recht große Chancen aus: Am EPG greife in der Regel das "Trennungsprinzip" nach deutschem Muster, wonach ein Nichtigkeitsverfahren gegen ein Patent von einer anderen Instanz möglicherweise erst Monate nach einem Urteil über eine Verletzung entschieden wird.

(axk)